
Der Prozess um den Tod von Mouhamed Dramé steht kurz vor einem Urteil. Am Mittwoch haben die Anwältin der Familie Dramé und die Verteidiger der Angeklagten ihre Schlussvorträge gehalten. Am Montag hatte bereits die Staatsanwaltschaft ihr Schlusspädoyer gehalten und lediglich eine Bewährungsstrafe für den Einsatzleiter gefordert.
Nebenklage: „regelrecht in das Schussfeld hineingetrieben“
Über zwei Jahre nach den tödlichen Polizeischüssen auf Mouhamed Dramé wird in der kommenden Woche das Urteil vor dem Landgericht verkündet. Der geflüchtete Jugendliche war im August 2022 in der Dortmunder Nordstadt getötet worden. Zuvor hatte er sich mit einem Messer am Bauch in suizidaler Absicht im Innenhof seiner Jugendgruppe aufgehalten. Die Polizei war durch einen Notruf der Betreuer:innen angerückt, um dem Jugendlichen zu helfen, doch der Einsatz eskalierte. Fünf Kugeln einer Maschinenpistole trafen den 16-Jährigen. Der Jugendliche starb später im Krankenhaus.

Nachdem die Staatsanwaltschaft am Montag in einem zweistündigen Plädoyer eine Bewährungsstrafe für den Einsatzleiter und Freisprüche für alle anderen Angeklagten beantragt hatte, hielt am Mittwoch zunächst Anwältin Lisa Grüter ihren Schlussvortrag. Sie vertritt die Familie Dramé als Nebenklage im Prozess.
Sie schilderte noch einmal die schwierige Lage, in der sich Mouhamed befunden habe. Dann kam sie zur Bewertung des Einsatzes. Die Beamt:innen hätten selbst eine Situation hergestellt, in der die einzige Fluchtrichtung nahe zu den Beamt:innen führte.
Kritik: Mouhamed wurde „regelrecht in das Schussfeld hineingetrieben“
Sie kritisierte, dass Mouhamed nicht einmal gesagt worden sei, welches Verhalten die Polizei von ihm erwartete, um nicht mit Reizgas besprüht zu werden. Eine Androhung des Pfeffersprays oder die Aufforderung, das Messer niederzulegen, hatte kein Zeuge wahrgenommen. Grüter ist überzeugt, es hätte per Übersetzer-App in Mouhameds Sprache übersetzt werden können. Schließlich sei die Androhung nicht nur eine Formalität. Mit dem unangekündigten Reizgaseinsatz sei Mouhamed „regelrecht in das Schussfeld hineingetrieben“ worden.

Für Kritik sorgte bei Grüter auch eine Aussage des Oberstaatsanwalts Carsten Dombert am Montag. Der hatte gesagt, die Angeklagten seien durch Rassismusvorwürfe diskriminiert worden, obwohl sich in dem Verfahren keine Hinweise auf rassistische Einstellungen der Angeklagten ergeben hätten.
Grüter kritisierte Domberts Aussagen als nicht dem aktuellen Forschungsstand entsprechend. Schließlich würden rassistische Stereotype unterbewusst Entscheidungen beeinflussen und Handeln besonders in Stresssituationen leiten. Konkrete Strafforderungen möchte sie als Anwältin der Nebenklage nicht machen. Doch die von der Staatsanwaltschaft geforderte zehnmonatige Bewährungsstrafe sieht sie als zu gering an.
Folgt das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft, kann der Einsatzleiter als Polizist weiterarbeiten. Denn erst eine Verurteilung von mindestens einem Jahr würde zur Beendigung des Beamtenverhältnisses führen. Der Polizistin, die das Reizgas versprühte, wirft Grüter vor, die Anweisung des Einsatzleiters „blindlinks befolgt“ zu haben. Zeit für Rückfragen habe es sicherlich gegeben, glaubt die Anwältin.
Verteidiger des Einsatzleiters macht Medien Vorwürfe
Einen Rückblick warf Grüter auf die ersten Äußerungen der Polizei Dortmund und Innenminister Reul, kurz nach dem Tod Mouhameds. Die hatten damals klar von einem Angriff durch den Jugendlichen gesprochen. Für die Familie Dramé sei diese Darstellung unerträglich gewesen.

Von den Verteidigern hielt zuerst Michael Emde als Anwalt des Einsatzleiters seinen Schlussvortrag. Das Geschehene sei „in jedem Fall eine Tragödie“. Für die Familie Dramé, aber auch für die Angeklagten. Einleitend versuchte Emde, ein Verständnis für die Gefährlichkeit des Polizeiberufs zu schaffen.
Folgend verglich er die Zahl der durch die Polizei getöteten Menschen mit der Zahl im Einsatz getöteter Polizei- und Zollbeamt:innen. Zahlen des Zolls wurden aber nicht statistisch erhoben, weswegen er dazu Annahmen traf. So kam er zu dem Entschluss, dass ähnlich viele Menschen durch die Polizei wie im Dienste der Polizei sterben. Weiter führte er an, dass in der USA deutlich mehr Menschen von der Polizei getötet werden.

Dann kam auch er zu dem Thema Rassismus. Es gebe überhaupt keine Anhaltspunkte für „Fremdenfeindlichkeit“ in dem Fall. Stattdessen warf er Journalist:innen vor, das Thema Rassismus in den Raum zu stellen. Es habe Versuche gegeben, „trotz fehlender Anhaltspunkte Ausländerfeindlichkeit zu unterstellen“. Es sei die Frage, ob die Medien damit nicht sogar Rassismus befeuern würden.
Reaktionen im Pressebereich des Gerichts war zu entnehmen, dass die meisten Journalist:innen den Vorwurf als absurd wahrnahmen. Schließlich war es in der Berichterstattung der meisten Medien eher nicht darum gegangen, die Angeklagten hätten Mouhamed als Rassisten töten wollen.
Vielmehr wurde die Frage thematisiert, ob Rassismus allgemein bei dem Einsatz eine Rolle spielte. Schließlich wird in der Rassismusforschung davon ausgegangen, dass weite Teile der Deutschen Bevölkerung rassistisch sozialisiert sind. Letztlich auch eine strukturelle Frage, die im Einzelfall nicht klar zu beantworten ist.
Schuldzuweisung des Verteidigers an Ärztin und Betreuer:innen
Dann versuchte Emde, die Kausalkette der Verantwortung absurdum zu führen. So wäre es nicht zu dem Einsatz und dessen Ausgang gekommen, wenn Mouhamed nicht in die Unterkunft gekommen wäre. Die Ärztin der LWL-Klinik, in der Mouhamed am Vortag war, ihn nicht wieder in die Unterkunft geschickt hätte. Die Betreuer*innen in der Einrichtung Mouhamed dauerhaft beobachtet hätten.

Bezüglich der Entscheidung, Mouhamed aus der Klinik zurückzuschicken, stellt er den Mangel an Krankenhauskapazitäten als möglichen Grund in den Raum. Auch die Frage einer strafrechtlichen Relevanz der Entscheidung der Ärztin könne man stellen, wirft Emde in den Raum.
Diesbezüglich hatte die Staatsanwaltschaft allerdings bereits am Montag erklärt, dass sie die Entscheidung der Ärztin nicht als strafrechtlich relevant ansieht.
Nochmals betonte Emde die Schwierigkeiten des Polizeiberufs. Die Beamten könnten nun mal nicht einfach wieder gehen, sondern müssten die Lage lösen. „Der Herr H. (Einsatzleiter) hat sich das überhaupt nicht einfach gemacht.“
Eine konkrete Ausbildung für den Umgang mit psychisch Kranken gab es nicht
Die rechtliche Bewertung der Staatsanwaltschaft sei hervorragend ausgearbeitet, doch das sei nun mal über lange Zeit erarbeitet worden. „Polizeibeamte haben diese Zeit nicht“, erklärte er. Eine konkrete Ausbildung für den Umgang mit psychisch Kranken gäbe es, wenn überhaupt, erst als Lehre aus dem Fall. Alternativen wie ein SEK kommentierte der Anwalt mit einem Einzelfall, bei dem ein psychisch auffälliger Mann von einem SEK erschossen wurde.

Am vorherigen Prozesstag hatte noch ein Dozent der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung ausgesagt, dass vor einer möglicherweise eingeschränkten Wirkung von Reizgas bei psychisch Kranken gewarnt wird.
Der Anwalt kommentierte das in seinem Schlussvortrag abschließend. Es sei lediglich ein Hinweis, um für den Fall entsprechende Sicherung bereitzustellen. Das habe sein Mandant mit dem Sicherungsschützen getan. Er sieht den Einsatz als rechtmäßig an und fordert einen Freispruch für seinen Angeklagten.
Der Anwalt der Reizgas einsetzenden Beamtin hielt sein Plädoyer deutlich kürzer. Seine Mandantin sei nach dem Polizeigesetz verpflichtet, Weisungen von Vorgesetzten umzusetzen, führte Lars Brögeler aus. Die einzigen Ausnahmen: Sie müsse erkennen, dass es sich dabei um eine Straftat handelt oder es offensichtlich sei, dass es sich darum handelt. Beides hält er in dem Fall für mit großer Sicherheit auszuschließen. Die fehlende Androhung des Zwangsmittels begründet er mit der fehlenden Reaktion auf vorhergegangene Kontaktversuche. Auch er fordert einen Freispruch für seine Mandantin.
Kritik an Lacher aus dem Besucherraum
Sehr ausführlich äußerte sich dann noch einmal Christoph Krekeler als Anwalt des Polizisten, der die Schüsse mit der Maschinenpistole abgab. Er startete zunächst mit Kritik am Verhalten einiger Besucher:innen während des Plädoyers der Staatsanwaltschaft am vergangenen Montag. Die hatten gelacht, als Oberstaatsanwalt Carsten Dombert von Diskriminierung der Angeklagten durch Rassismusvorwürfe sprach.

Die Lacher empfindet Krekeler als völlig deplatziert. Schließlich gehe es im Prozess um etwas. Jeder Mensch, egal ob Aktivist oder Polizist, habe das Recht, als solcher wahrgenommen zu werden. Auch er greift die Rassismus-Thematik auf. Struktureller Rassismus sei am Ende eine innere Haltung, die sich im Tatgeschehen äußern müsste.
Bei seinem Mandanten könne er das ausschließen, ist er überzeugt, und wiederholt sein Eingangsstatement. Nicht nur sein Mandant habe die Situation als bedrohlich empfunden und auf die Hautfarbe sei es seinem Mandanten nicht angekommen.
Die Annahme der Staatsanwaltschaft, für Mouhamed sei die Polizei nicht negativ besetzt gewesen, teilt er so nicht. Man könne das nicht wissen. Schließlich habe Mouhamed möglicherweise auf der Flucht negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Weiter führt er die mehrmalige Rückbringung in seine alte Unterbringung in Rheinland-Pfalz an.

Auch die staatsanwaltschaftliche Anmerkung, Mohamed sei nicht mit erhobenem Messer auf die Beamten zugelaufen, kann er nicht nachvollziehen. Eine Vielzahl an Internetvideos zeige, dass Messerstiche überwiegend von unten ausgeübt würden. Er wertet das Zulaufen auf die Beamten anders als Staatsanwaltschaft und Nebenklage weiter als Angriff und fordert für seinen Mandanten einen Freispruch.
Jan-Henrik Heinz, der Anwalt der Polizistin, die einen Taser einsetzte, hält sich kurz. Er schließt sich der Staatsanwaltschaft im geforderten Freispruch an. In Bezug auf seine Mandantin sei völlig egal, was vorher passierte, weil sie damit „schlicht und ergreifend nichts zu tun“ habe. Ein Angriff auf sie sei nicht gerechtfertigt gewesen, da sie nicht angegriffen habe.
Auch Marc Imberg, Anwalt des anderen Polizisten, der einen Taser abfeuerte, hält sich kurz. Er kritisiert die Betonung der statischen Lage durch Staatsanwaltschaft und Nebenklage. „Konkret ist die Gefahr, wenn sie hinreichend wahrscheinlich ist“, erklärt er und sieht die Gefahr gegeben.
Angeklagte emotional: „Das hat keiner von uns gewollt“
Nach den Plädoyers hatten die Angeklagten die Möglichkeit, noch selbst etwas zu sagen. Der für den Taser-Einsatz angeklagte Polizist sagte, er würde gerne mehr sagen, aber lasse es lieber. Nur die Polizistin, die ebenfalls einen Taser einsetzte, nutzte die Möglichkeit.

Am Ende bleibe die Tatsache, dass Mohamed nicht mehr am Leben ist, sagt sie sichtlich emotional. Ihre Tränen zwingen sie dann zu einer Pause. „Das hat keiner von uns gewollt. Das kann man aber nicht mehr rückgängig machen“, führt sie fort.
Nun müsse die Familie Dramé, aber auch sie und ihre Kollegen damit leben. Sie habe in der Situation keinen anderen Ausweg gesehen. Von den Rassismusvorwürfen möchte auch sie sich distanzieren. Die Polizistin wirkte bereits an vorherigen Prozesstagen emotional mitgenommen. Sie selbst ist in der Nordstadt aufgewachsen.
Das Landgericht Dortmund verkündet am 12. Dezember die Urteile

Nach dem Prozesstag äußerte sich Grüter als Anwältin der Familie Dramé auf Nachfrage zu dem Prozesstag. Es sei für die Brüder schwer auszuhalten gewesen, die Vorwürfe zu hören, ihr Bruder habe die Polizisten angreifen wollen.
Dass die Polizistin ihre Redemöglichkeit genutzt hat, um Anteil zu nehmen, empfindet sie als „anständig“. Es sei schade, dass die anderen Angeklagten das nicht getan haben.
Für den 12. Dezember 2024 hat Richter Thomas Kelm ein Urteil in dem Fall angekündigt. Dafür treffen sich alle Beteiligten ein letztes Mal in dem Prozess um 13 Uhr im Landgericht Dortmund.
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