
Großer Andrang: Die Bürgerdienste ächzen unter großer Arbeitsbelastung. Ein Grund für die Missstände?
Wie kann es sein, dass ein „Ausweis-Rohling“ bei den Bürgerdiensten verschwindet? Lange nicht hat ein Vorgang im Rathaus so viel Kopfschütteln, Fassungslosigkeit und überregionale Aufmerksamkeit ausgelöst. Wie hoch die Wellen schlagen werden, ist noch völlig offen. Klar ist nur: Es gibt immens viele offene Fragen und unklare Verantwortlichkeiten. Daran änderte auch die Sitzung des Fachausschusses nichts. Sie stieß auf großes Interesse. Selbst die Staatsanwaltschaft verfolgte die Debatte von der Besuchertribüne aus.
Ausweis-Rohling im Wagen eines in Dortmund lebenden Rumänen gefunden
Was war passiert? Ein unbeschrifteter „vorläufiger Personalausweis“ war der Polizei bei einem Unfall bei Düren im Handschuhfach eines der am Unfall beteiligten Fahrzeuge aufgefallen. Der Halter des Fahrzeugs ist ein 30-jähriger Rumäne aus Dortmund, der aber selbst beim Unfall nicht anwesend war.
Da jeder „Blanko-Ausweis“ eine Seriennummer hat, ergab eine Nachfrage bei der Bundesdruckerei in Berlin, dass das Dokument aus den Beständen der Bürgerdienste der Stadt Dortmund stammt. Allerdings war das gefundene Dokument weder ausgefüllt noch trug es ein Dienstsiegel.
Am 20. Januar schlug der Fall in der Dortmunder Stadtverwaltung auf – und sorgt seitdem für hohe Wellen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt im konkreten Fall des gefundenen Ausweises wegen „Vorbereitung einer Fälschung von amtlichen Ausweisen“ – auch gegen die Stadt Dortmund.
Dort wirft der gefundene „Rohling“ allerdings noch ganz andere Fragen auf und stellt das gesamte System des Umgangs mit den sensiblen Dokumenten in Frage. Über die mittlerweile eingeleiteten Schritte und Untersuchungen berichtete die zuständige Dezernentin Diane Jägers im zuständigen Ausschuss für Bürgerdienste, Sicherheit und öffentliche Ordnung.
Keine lückenloser Nachweis über den Verbleib der Blanko-Ausweisdokumente
Im vergangenen Jahr wurden in Dortmund 50.000 endgültige Personalausweise und 20.000 endgültige Reisepässe ausgegeben. Von der Beantragung bis zur Ausgabe können allerdings einige Wochen vergehen, weil diese ausschließlich von der Bundesdruckerei in Berlin gefertigt werden.
Wird allerdings – aus welchem Grund auch immer – sofort ein Dokument benötigt, kann ein vorläufiges Papier bei den Bürgerdiensten erstellt werden. Dafür gibt es Blanko-Dokumente, die bei den Bürgerdiensten in der Innenstadt oder einer der neun Bezirksverwaltungsstellen ausgefüllt werden können.
Im vergangenen Jahr wurden dort 8000 vorläufige Ausweise, 2000 vorläufige Reisepässe und 6000 vorläufige Kinderausweise erstellt. Sie sind nur drei Monate gültig. Allerdings gibt es – entgegen der Soll-Vorschriften – offensichtlich keine verlässliche und lückenlose Dokumentation über die Verwendung der „Rohlinge“.
Nicht selten kommt es vor, dass die Blanko-Vordrucke unbrauchbar werden – zum Beispiel wenn der Drucker das Dokument nicht richtig einzieht, Angaben fehlerhaft sind oder Kaffee über das Dokument gekippt wurde. Dann muss der unbrauchbare Rohling nach Vorlage beim Vorgesetzten dokumentiert und entsorgt werden. Allerdings gibt es keinen lückenlosen Nachweis über die Verwendung der Blanko-Ausweise.
Rechnungsprüfer untersuchen die Verwendung von 90.000 Ausweis-Rohlingen
Dies ist eine Erkenntnis der gestarteten Überprüfung durch das Rechnungsprüfungsamt. Allerdings gibt es noch keine Antworten. Vor allem nicht auf die Frage, ob es sich um einen Einzelfall handelt.
Allerdings ist die Untersuchung nicht einfach: Seit dem 1.11.2010 – an dem Tag wurde ein neuer Personalausweis eingeführt – bis heute sind rund 90.000 Rohlinge verbraucht worden. Allerdings ist bisher nicht endgültig klar, wie viele davon regulär ausgegeben wurden, entsorgt wurden oder – wie der bei dem Unfall gefundene Blanko-Ausweis – „abhanden“ kamen.
Das bedrückende Zwischenergebnis, so Dezernentin Diane Jägers: „Von diesen 90.000 kann eine nicht unerhebliche Anzahl nicht einer ordentlichen Verwendung zugeordnet werden.“ Eigentlich müsste auf einen Blick in der Datenbank erkennbar sein, was aus welchem Blanko-Ausweis wurde. Doch ist dies nicht systematisch nachgehalten worden.
Viele offene Fragen: Schludrige Arbeit oder kriminelle Energie?
„Das kann entweder bedeuten, dass von einem oder mehreren Beschäftigten nachlässig bis schludrig gearbeitet wurde. Das kann auch bedeuten, dass die Kontrollmechanismen von Teamleitungen bis in die höheren Ebenen nicht funktioniert.
Wir können zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht ausschließen, dass mit hoher krimineller Energie gearbeitet wurde“, so Jägers. „Es wurde bisher ein Ausweis aufgefunden. Ich schließe aber nicht aus, dass es auch andere Vorfälle gibt“, so die Dezernentin.
„Ich hoffe, dass sich das nicht bestätigt. Aber der Sachstand lässt es nicht ausgeschlossen erscheinen. Es lässt sich nicht lückenlos nachvollziehen.“
Dezernentin geht auf Distanz und will offenbar keine Verantwortung übernehmen
Das Bemerkenswerte bei dem Bericht: Jägers distanzierte sich von dem im Ausschuss mündlich vorgetragenen Bericht. „Ich stelle dar und berichte nur, aber mache es mir nicht zu eigen. Verantworten müssen das die, die in dem Bereich Verantwortung tragen“, sagte sie mit Blick auf die im Ausschuss anwesenden Amtsleiter.
Um vorsorglich von der eigenen Verantwortung abzulenken, machte sie zudem deutlich, „dass ich als Dezernentin die Letzte bin, die weiß, wie vorläufige Ausweispapiere erstellt werden“.
Insgesamt 110 Beschäftigte im Stadthaus und den neun Verwaltungsstellen haben Zugriff auf die Rohlinge. Von verschiedenen Seiten gab es im Ausschuss Appelle, diese Beschäftigten nicht unter Generalverdacht zu stellen. Bisher sei ja völlig offen, ob es überhaupt disziplinar- und/oder strafrechtlich relevante Vorfälle gegeben habe.
Drei Schwachstellen bei den Bürgerdiensten sind bereits identifiziert
Diese Ungewissheit wird wegen der Überprüfung von 90.000 Vorgängen noch länger bleiben. Klar ist für Jägers bisher nur: „Mindestens drei Schwächen wurden schon festgestellt.“ So sei die Dokumentation über die Verwendung und den Verbleib der Vordrucke nicht lückenlos erfolgt.
Außerdem gebe es in der Verwaltung keine ausreichende Bestandskontrolle. Schließlich sei der Bestand an Rohlingen vor Ort höher als der Tagesbedarf. Im Klartext: Die SachbearbeiterInnen haben sich von den Vorgesetzten mehr Rohlinge geholt, als wahrscheinlich pro Tag benötigt wurden. Sie hatten also eine „Reserve“ an ihrem Arbeitsplatz, wodurch Wartezeiten für Kundinnen und Kunden minimiert wurden.
Zumindest beim letzten Punkt gibt es jetzt schon eine Reaktion: Neue Rohlinge werden nur noch einzelfallbezogen an die SachbearbeiterInnen ausgegeben. Außerdem muss nun wirklich ein lückenloser Nachweis erfolgen. Diese Vorgabe gab es zwar schon immer, sie wurde aber offensichtlich früher nicht immer eingehalten.
Systemfrage: Künftig getrennte Bearbeitung von Ausweisen und Autopapieren?
Das bedeutet zum einen vor allem zeitlichen Mehraufwand. Außerdem wird das ganze System der Bürgerdienste in Frage gestellt. Bisher können die Bürgerinnen und Bürger bei einem einzigen Sachbearbeiter sowohl Ausweise als auch Fahrzeugdokumente beantragen. Dies setzt aber voraus, dass die Beschäftigten in beiden Feldern unterwiesen und geschult sind.
Jedoch gibt es bei den Bürgerdiensten eine hohe Fluktuation und unbesetzte Stellen – nicht zuletzt wegen der hohen Arbeitsbelastung. Daher kann es sein, dass nicht ausreichend unterwiesene Beschäftigte Umgang mit den Rohlingen hatten und sie nichts von den Dokumentationspflichten wussten.
Der Vorfall zeige „wie existenziell es ist, nicht nur Kunden schnell zu bedienen, sondern auch die Dokumentation zu pflegen“, so Jägers.
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